Gestern war er noch gesund«, sagte Maude. Ihre Ohren zuckten
nervös.
»Das sagt gar nichts«, entgegnete Sir Ritchfield, der älteste
Widder der Herde, »er ist ja nicht an einer Krankheit gestorben.
Spaten sind keine Krankheit.«
Der Schäfer lag neben dem Heuschuppen unweit des Feldweges
im grünen irischen Gras und rührte sich nicht. Eine einzelne
Krähe hatte sich auf seinem wollenen Norwegerpullover
niedergelassen und äugte mit professionellem Interesse in sein
Innenleben. Neben ihm saß ein sehr zufriedenes Kaninchen.
Etwas entfernter, nahe der Steilküste, tagte die Konferenz der
Schafe.
Sie hatten Ruhe bewahrt, als sie ihren Schäfer an diesem Morgen
so ungewohnt kalt und leblos vorgefunden hatten, und sie
waren sehr stolz darauf. Natürlich hatte es im ersten Schrecken
ein paar unüberlegte Rufe gegeben:»Wer bringt uns jetzt Heu?«
etwa, oder »Ein Wolf! Ein Wolf!« Aber Miss Maple hatte schnell
dafür gesorgt, dass keine Panik ausbrach. Sie erklärte, dass mitten
im Sommer auf der grünsten und fettesten Weide Irlands sowieso
nur Dummköpfe Heu fressen würden und dass selbst die raffiniertesten
Wölfe ihren Opfern keinen Spaten durch den Leib
jagten. Und ein solches Gerät ragte ganz zweifellos aus den morgenfeuchten
Innereien des Schäfers.
Miss Maple war das klügste Schaf von ganz Glennkill. Manche
behaupteten sogar, sie sei das klügste Schaf der Welt. Doch
niemand konnte das nachweisen. Es gab zwar einen jährlichen
Smartest-Sheep-of-Glennkill-Contest, doch Maples außerordentliche
Intelligenz erwies sich gerade darin, dass sie an solchen
Wettbewerben nicht teilnahm. Der Gewinner verbrachte nach
seiner Krönung mit einem Kranz aus Klee (den er anschließend
fressen durfte) mehrere Tage auf einer Tournee durch die
Pubs der angrenzenden Orte. Dort musste er immer wieder das
Kunststück aufführen, das ihm irrtümlich seinen Titel eingebracht
hatte, blinzelte in den Tabaksqualm, bis ihm die Augen
tränten, und wurde von den Menschen so lange mit Guinness
abgefüllt, bis er nicht mehr richtig stehen konnte. Außerdem
machte ihn von da an sein Schäfer für jeden Schabernack verantwortlich,
der auf der Weide geschah:Der Schlauste war immer
der Hauptverdächtige.
George Glenn würde nie wieder ein Schaf für etwas verantwortlich
machen. Er lag aufgepfählt nahe des Feldwegs, und seine
Schafe beratschlagten, was nun zu tun sei. Sie standen zwischen
dem wasserblauen Himmel und dem himmelblauen Meer an der
Steilküste, wo man das Blut nicht riechen konnte, und fühlten
sich verantwortlich.
»Er war kein besonders guter Schäfer«, sagte Heide, die noch
fast ein Lamm war und die nicht vergessen konnte, dass George
nach dem Winter ihren stattlichen Lämmerschwanz kupiert
hatte.
»Genau!« Das war Cloud, das wolligste und prächtigste Schaf,
das man sich vorstellen konnte. »Er hat unsere Arbeit nicht geschätzt.
Die norwegischen Schafe machen es besser! Die norwe-
gischen Schafe haben mehr Wolle! Er hat sich Pullover von fremden
Schafen aus Norwegen schicken lassen – eine Schande,welcher
andere Schäfer hätte seine Herde so gekränkt!«
Es entspann sich eine längere Diskussion zwischen Heide,
Cloud und Mopple the Whale. Mopple the Whale bestand darauf,
dass die Güte eines Schäfers sich schließlich an Futtermenge
und -qualität erweisen würde und dass es hier nichts, aber auch
gar nichts gegen George Glenn zu sagen gäbe. Schließlich einigte
man sich darauf, dass der ein guter Schäfer sei, der niemals den
Lämmern die Schwänze kupiert, keinen Schäferhund einstellt,
Futter in Hülle und Fülle verabreicht, vor allem Brot und Zucker,
aber auch gesunde Sachen wie Kräuter, Kraftfutter und
Rüben (ja, sie waren alle sehr vernünftig) und sich ganz und gar
in die Produkte seiner eigenen Herde kleidet, etwa mit einem
Ganzkörperfell aus gesponnener Schafswolle. Das würde dann
sehr schön aussehen, beinahe so, als sei er auch ein Schaf. Natürlich
war allen klar, dass ein solch vollkommenes Wesen auf der
ganzen Welt nicht zu finden war. Aber ein schöner Gedanke war
es trotzdem. Man seufzte ein bisschen und wollte dann wieder
auseinander gehen, hochzufrieden damit, alle offenen Fragen geklärt
zu haben.
Doch bisher hatte sich Miss Maple noch nicht an der Diskussion
beteiligt. Jetzt sagte sie:»Wollt ihr denn gar nicht wissen,
woran er gestorben ist?«
Sir Ritchfield sah sie erstaunt an. »Er ist an dem Spaten gestorben.
Du hättest das auch nicht überlebt, so ein schweres Eisending
mitten durch den Leib. Kein Wunder, dass er tot ist.« Ritchfield
schauderte ein bisschen.
»Und woher der Spaten?«
»Jemand hat ihn hineingesteckt.« Für Sir Ritchfield war die
Sache damit erledigt,aber Othello,das einzige schwarze Schaf der
Herde, begann auf einmal, sich für das Problem zu interessieren.
»Nur ein Mensch kommt in Frage – oder ein sehr großer
Affe.« Othello hatte eine bewegte Jugend im Zoo von Dublin
verbracht und versäumte es nie, bei Gelegenheit darauf anzuspielen.
»Ein Mensch.« Maple nickte zufrieden. Die Zahl der Verdächtigen
ging rapide zurück. »Ich denke, wir sollten herausfinden,
was das für ein Mensch war. Das sind wir dem alten George
schuldig.Wenn ein wilder Hund eines unserer Lämmer gerissen
hatte, versuchte er auch immer, den Schuldigen zu finden.
Außerdem gehörte er uns. Er war unser Schäfer.Keiner hatte das
Recht, einen Spaten in ihn zu stecken. Das ist Wolferei, das ist
Mord!«
Jetzt waren die Schafe doch erschrocken.Auch der Wind hatte
gedreht, und der frische Blutgeruch zog in feinen, aber deutlich
wahrnehmbaren Witterungsfäden Richtung Meer.
»Und wenn wir den Spatenstecker gefunden haben?«, fragte
Heide nervös. »Was dann?«
»Gerechtigkeit!«, blökte Othello.
»Gerechtigkeit!«,blökten die anderen Schafe.Damit war es beschlossene
Sache, dass die Schafe von George Glenn den gemeinen
Mord an ihrem einzigen Schäfer aufklären würden.
Zuerst ging Miss Maple die Leiche besichtigen. Gerne tat sie es
nicht. In der irischen Sommersonne hatte George schon begonnen,
einen Verwesungsgeruch auszuströmen, der ausreichte, um
jedem Schaf einen Schauer über den Rücken zu jagen.
Anfangs umkreiste sie den Schäfer in respektvollem Abstand.
Die Krähe krächzte missbilligend und flatterte auf schwarzen
Flügeln davon. Maple wagte sich näher heran, betrachtete den
Spaten, schnupperte an Kleidern und Gesicht. Schließlich – die
in sicherer Entfernung zusammengeballte Herde hielt den Atem
an – steckte sie sogar ihre Schnauze in die Wunde und wühlte
darin herum. Zumindest sah es von weitem danach aus. Mit blutiger
Nase kehrte sie zu den anderen zurück.
»Und?«, fragte Mopple, der die Spannung nicht mehr aushielt.
Mopple hielt Spannung nie besonders lange aus.
»Er ist tot«,antwortete Miss Maple.Mehr schien sie im Augenblick
nicht sagen zu wollen. Dann blickte sie in Richtung Feldweg.
»Wir müssen bereit sein. Früher oder später werden Menschen
hierher kommen.Wir müssen beobachten,was sie tun, aufpassen,
was sie erzählen. Und wir sollten nicht so verdächtig herumstehen,
alle auf einem Haufen.Wir sollten uns natürlich benehmen.«
»Aber wir benehmen uns doch natürlich«, wandte Maude
ein. »George ist tot und ermordet. Sollen wir etwa in seiner Nähe
weiden, dort,wo das Gras noch mit Blut bespritzt ist?«
»Ja. Genau das sollten wir tun.« Othello trat schwarz und entschlossen
zwischen ihnen hervor. Er verengte die Nüstern, als er
die entsetzten Gesichter der anderen sah.»Keine Angst,ich werde
es tun. Ich habe meine Jugend neben dem Raubtiergehege verbracht,
ein bisschen mehr Blut wird mich nicht umbringen.« In
diesem Augenblick dachte Heide, dass Othello ein ganz besonders
verwegener Widder sei, und beschloss, zukünftig häufiger in
seiner Nähe zu grasen – selbstverständlich erst,wenn George verschwunden
war und ein frischer Sommerregen die Wiese reingewaschen
hatte.
Miss Maple verteilte die Wachen. Sir Ritchfield, der trotz seines
Alters noch gute Augen hatte, postierte sie auf dem Hügel.
Von dort konnte man über die Hecken hinweg bis zur Asphaltstraße
sehen. Mopple the Whale hatte schlechte Augen, aber ein
gutes Gedächtnis. Er stand neben Ritchfield und sollte sich alles
merken, was dieser beobachtete. Heide und Cloud überwachten
den Fußpfad, der quer über ihre Wiese führte: Heide bezog
Posten am Tor Richtung Dorf, Cloud dort,wo der Weg in einer
Senke verschwand. Zora, ein schwarzköpfiges Schaf ohne Höhenangst,
stellte sich auf einen schmalen Felsvorsprung an den
Steilklippen und beobachtete von dort aus den Strand. Zora behauptete,
dass es unter ihren Vorfahren ein wildes Bergschaf gegeben
hatte, und wenn man sah, wie sorglos sie sich über dem
Abgrund bewegte, konnte man es beinahe glauben.
Othello verschwand im Schatten des Dolmengrabes unweit
der Stelle,wo der Spaten George auf den Boden pinnte.Von dort
konnte er bei Bedarf jederzeit unauffällig hervorweiden. Miss
Maple nahm nicht an der Beobachtung teil. Sie blieb am Wassertrog
stehen und versuchte, sich die Blutspuren von der Nase zu
waschen.
Der Rest verhielt sich natürlich.
Wenig später kam Tom O’Malley, nicht mehr ganz nüchtern,
den Fußweg von Golagh nach Glennkill entlang, um auch dem
hiesigen Pub einen Besuch abzustatten. Die frische Luft tat ihm
gut, das Grün, das Blau.Möwen jagten sich kreischend ihre Beute
ab, so schnell, dass ihm davon schwindlig wurde. Georges Schafe
grasten friedlich vor der herrlichen Aussicht. Malerisch.Wie aus
einem Prospekt. Ein Schaf hatte sich besonders weit vorgewagt
und thronte wie ein kleiner weißer Löwe direkt am Abhang.Wie
war es da wohl hingekommen?
»He, Schäfchen«, sagte Tom, »fall da bloß nicht runter.
Wäre doch schade, wenn so ein Hübsches wie du abstürzen
würde.«
Das Schaf sah ihn verächtlich an, und auf einmal kam er sich
blöd vor. Blöd und besoffen. Aber damit war jetzt Schluss. Er
würde es zu etwas bringen. In der Tourismusbranche. Im Tourismus
lag die Zukunft von Glennkill. Er musste das gleich mit den
Jungs im Pub besprechen.
Vorher wollte er sich nur noch schnell den prächtigen schwarzen
Widder näher ansehen. Vier Hörner.Wirklich ungewöhnlich.
Georges Schafe waren schon etwas Besonderes.
Der Schwarze ließ ihn aber nicht nahe genug herankommen,
sondern wich mühelos seiner Hand aus, ohne sich dabei viel zu
bewegen.
Dann sah Tom den Spaten.
Ein guter Spaten. So einen hätte er auch gebrauchen können.
Und niemand da, dem er zu gehören schien. Er beschloss, ihn zukünftig
als seinen Spaten zu betrachten. Jetzt wollte er ihn unter
dem Dolm verstecken, und nachts würde er wiederkommen und
ihn holen. Der Gedanke, nachts an den Dolm zu gehen, gefiel
ihm nicht besonders. Man erzählte sich Geschichten. Aber er war
ein moderner Mensch, und das war ein ausgezeichneter Spaten.
Als er seine Hand um den Griff legte, stieß sein Fuß gegen etwas
Weiches.
An diesem Nachmittag hörte man Tom O’Malley im Mad
Boar zum ersten Mal seit langer Zeit wieder aufmerksam zu.
Bald darauf sah Heide ein kleines Grüppchen Menschen im
Laufschritt den Weg aus dem Dorf heraufkommen. Sie blökte
kurz, lang, nochmals kurz, und Othello tauchte etwas unwillig
unter dem Dolmengrab auf.
Voran ging ein spinnendünner Mann, den die Schafe nicht
kannten. Sie betrachteten ihn aufmerksam. Der Anführer ist immer
wichtig.
Hinter ihm kam der Metzger. Die Schafe hielten den Atem an.
Der Metzger war fürchterlich. Allein sein Geruch reichte aus,um
jedem Schaf die Knie zittrig zu machen. Der Metzger roch nach
qualvollem Tod. Nach Schreien, Schmerz und Blut. Sogar die
Hunde hatten Angst vor ihm.
Die Schafe hassten den Metzger. Und sie liebten Gabriel,
der dicht hinter ihm ging, ein kleiner Mann mit struppigem Bart
und Schlapphut, der seine Schritte schnell setzte, um von dem
Fleischberg vor ihm nicht abgehängt zu werden. Sie wussten,warum
sie den Metzger hassten.Warum sie Gabriel liebten, wussten
sie nicht. Er war einfach unwiderstehlich. Seine Hunde führten
die phantastischsten Kunststücke auf. Jedes Jahr gewann er
den großen Hütewettbewerb in Gorey. Die Menschen hatten
großen Respekt vor ihm. Es hieß, er könne mit den Tieren sprechen,
doch das stimmte nicht. Die Schafe zumindest verstanden
nichts von Gabriels gälischem Gemurmel. Aber sie fühlten sich
berührt, geschmeichelt und zuletzt verführt und trabten vertrauensvoll
in seine Nähe,wenn er auf dem Feldweg an ihrer Weide
vorbeilief.
Jetzt hatten die Menschen die Leiche fast erreicht. Die mutigeren
unter den Schafen vergaßen für einen Augenblick, natürlich
auszusehen,und reckten gespannt die Hälse.Einige Lämmersprünge
vor George blieb der dünne Anführer wie angewurzelt stehen.
Seine lange Gestalt schwankte einen Moment wie ein Zweig im
Wind, doch seine Augen waren starr wie Nadeln auf den Punkt
geheftet, an dem der Spaten Georges Eingeweide verließ.
Auch Gabriel und der Metzger blieben in einiger Entfernung
von der Leiche stehen. Der Metzger blickte einen Moment lang
zu Boden. Gabriel nahm die Hände aus den Hosentaschen. Nun
riss der Dürre seine Augen von George los und fischte sich mit
einer halbherzigen Geste die Mütze vom Kopf. Der Metzger
sagte etwas. Seine fleischigen Hände waren zu Fäusten geballt.
Othello weidete kühn vorbei.
Dann hatte es, schnaufend und prustend, mit knallrotem Gesicht
und wirren roten Haaren, auch Lilly den Fußpfad hinauf
geschafft, und mit ihr eine Wolke von künstlichem Fliederduft.
Als sie George sah, stieß sie einen kleinen, spitzen Schrei aus.
Die Schafe sahen ihr gelassen zu. Lilly kam manchmal in den
Dämmerungsstunden auf die Weide und stieß bei jeder Gelegenheit
ihre kleinen, spitzen Schreie aus.Wenn sie in ein Häufchen
Schafsköttel getreten war.Wenn ihr Rock an einer Hecke
hängenblieb.Wenn George etwas sagte, was ihr nicht gefiel. Die
Schafe hatten sich daran gewöhnt. Sobald George und Lilly dann
für kurze Zeit im Schäferwagen verschwanden, kehrte wieder
Ruhe ein. Lillys seltsame Schreie machten ihnen keine Angst
mehr.
Doch dann wehte der Wind plötzlich einen jämmerlichen,
lang gezogenen Laut über die Weide. Mopple und Cloud verloren
die Nerven und galoppierten auf den Hügel,wo sie sich verschämt
darum bemühten, wieder natürlich auszusehen.
Lilly war direkt neben der Leiche auf die Knie gefallen,
ohne sich um das nachtregenfeuchte Gras zu kümmern, und stieß
diese schrecklichen Töne aus. Ihre Hände wanderten wie zwei
verwirrte Insekten über den Norwegerpulli und Georges Jacke
und zerrten an seinem Kragen.
Dann war auf einmal der Metzger bei ihr und riss sie grob am
Arm zurück. Die Schafe hielten den Atem an. Der Metzger hatte
sich schnell wie eine Katze bewegt. Jetzt sagte er etwas. Lilly sah
ihn an, als sei sie gerade aus einem tiefen Schlaf gerüttelt worden.
In ihren Augen schwammen Tränen. Sie bewegte die Lippen,
aber kein Laut wehte über die Weide. Der Metzger antwortete
etwas. Dann packte er Lilly am Ärmel und zog sie auf die Seite,
ein gutes Stück von den beiden anderen Männern weg. Der
Dürre begann sofort, auf Gabriel einzureden.
Othello blickte sich Hilfe suchend um:Wenn der Widder bei
Gabriel blieb, verpasste er das, was sich zwischen dem Metzger
und Lilly abspielte – und umgekehrt. Die meisten Schafe erkannten
das Problem, aber keiner hatte Lust, sich der Leiche oder dem
Metzger zu nähern, die beide nach Tod rochen. Sie konzentrierten
sich lieber auf ihre Aufgabe, natürlich auszusehen.
Da kam Miss Maple vom Wassertrog getrabt und übernahm die
Beobachtung des Metzgers. Auf ihrer Nase saß noch immer ein
verdächtiger rötlicher Fleck, aber sie hatte sich im Schlamm gewälzt
und sah jetzt einfach nur wie ein sehr schmutziges Schaf
aus.
»…widerlich«, sagte der Metzger gerade zu Lilly. »Dein Theater
kannst du dir jedenfalls sparen. Glaub mir, du hast jetzt ganz
andere Sorgen, Schätzchen.« Er hatte sie mit seinen wurstigen
Fingern am Kinn gefasst und hob ihren Kopf ein wenig an, so
dass sie ihm direkt in die Augen blicken musste. Lilly lächelte
besänftigend.
»Warum sollte mich jemand verdächtigen?«, fragte sie und versuchte,
den Kopf freizubekommen. »George und ich sind doch
immer gut miteinander ausgekommen.«
Der Metzger hielt sie unbeirrt am Kinn fest. »Gut miteinander
ausgekommen.Genau.Das genügt denen schon.Wer ist denn
sonst gut mit George ausgekommen? Warte nur auf das Testament,
dann wird man sehen, wie gut ihr miteinander ausgekom-
men seid. Du hast nicht besonders viel Geld,was? Der Kosmetikkram
wirft nicht gerade ein Vermögen ab, und mit dem Gehure
kommt man in unserem Nest auch nicht weit. Aber komm nur
zu Ham, dann brauchst du dir um diese Schweinerei hier keine
Sorgen mehr zu machen.«
Gabriel rief etwas. Ham drehte sich abrupt um und stapfte zurück
zu den anderen. Lilly ließ er stehen. Das Lächeln fiel von
ihrem Gesicht. Sie zog ihren Schal enger um die Schultern und
schüttelte sich. Einen Augenblick sah es aus, als würde sie weinen.
Maple konnte sie gut verstehen. Vom Metzger angefasst zu
werden – das musste sein, als hätte einen der Tod am Ohr gezupft.
Wieder flogen Worte zwischen den vier Menschen hin und
her, doch die Schafe waren zu weit entfernt, um etwas davon zu
verstehen. Dann folgte ein lautes, verlegenes Schweigen. Gabriel
drehte sich um und schlenderte zurück Richtung Dorf, den
Dünnen dicht auf den Fersen. Lilly schien einen Augenblick zu
überlegen, dann hastete sie hinter den beiden Männern her.
Ham beachtete die anderen nicht. Er war direkt vor George
hingetreten. Eine seiner Metzgerspranken hob sich langsam, bis
sie wie eine fette Fleischfliege direkt über der Leiche schwebte.
Dann malten die Finger des Metzgers zwei Linien über George
in die Luft. Eine lange, die von Georges Kopf bis zu seinem
Bauch führte, und eine kürzere von Schulter zu Schulter, so dass
sich beide Linien kreuzten. Erst als Gabriel nochmals nach ihm
rief, trottete auch der Metzger Richtung Dorf.
Später kamen drei Polizisten und machten Fotos. Sie brachten
eine parfümierte Journalistin mit, die auch Fotos machte, sehr
viel mehr als die Polizisten. Sie ging sogar bis an die Klippen
und fotografierte Zora auf ihrer Felsnase, später Ritchfield und
Mopple, die vor dem Dolm weideten. Die Schafe waren zwar die
gelegentliche Aufmerksamkeit von Rucksacktouristen gewohnt,
aber das Interesse der Presse wurde ihnen schnell unangenehm.
Mopple verlor als Erster die Nerven und floh laut blökend auf
den Hügel. Die anderen ließen sich von der Panik anstecken und
folgten, selbst Miss Maple und Othello. In wenigen Augenblicken
hatten sie sich alle auf dem Hügel zusammengeballt und
schämten sich ein bisschen.
Die Polizisten beachteten die Schafe nicht. Sie zogen den Spaten
aus George, verpackten beide in große Plastiktüten, krochen
noch ein wenig auf dem Boden herum und verschwanden dann
in einem weißen Auto, das davonfuhr. Kurz darauf begann es zu
regnen. Bald sah die Weide aus, als sei nie etwas geschehen.
Die Schafe beschlossen, sich in den Heuschuppen zurückzuziehen.
Sie gingen alle gemeinsam, denn jetzt, so kurz nach
Georges Tod, kam ihnen der Schuppen ein wenig düster und
unheimlich vor. Nur Miss Maple blieb etwas länger draußen im
Regen stehen und ließ sich den Schlamm und endlich auch den
Blutfleck abwaschen.
Als sie in den Schuppen trat, hatten sich die Schafe um Othello
zusammengedrängt.Sie bestürmten ihn mit Fragen,aber der Widder
wartete ab. Heide blökte aufgeregt:
»Wie hast du es nur ausgehalten, so dicht neben dem Metzger.
Ich wäre gestorben vor Angst, ich bin auch so fast vor Angst gestorben,
als ich ihn nur den Fußpfad heraufkommen sah!«
Miss Maple verdrehte die Augen. Aber man musste dem
schwarzen Widder zugute halten, dass er der uneingeschränkten
Bewunderung seiner Herde herzlich unbeeindruckt gegenüberstand.
Sehr sachlich wandte er sich an Miss Maple.
»Der Metzger hat zuerst gesprochen.›Schweine!‹,hat er gesagt.«